titan.vc 
zurück 
Bienne
Man hört dicke Regentropfen ohne dass man sie sieht. Das ohnehin schon spärlich vorhandene soziale Leben zieht sich ganz in die ordentlichen Ikea Schränke zurück. Der Einsame steht in einem traumleeren verbauten Wattenmeer. Die Hässlichkeit scheinbarer Perfektion und Sauberkeit tritt deutlich hervor, kein Rauschen, das den Blick ablenkt, keine Menschen, vor denen man sich verstecken könnte um sich im Versteck sicher zu fühlen.
Am Bahnhof hole ich mir Brot, Käse, Yoghurt, Kaffee, Zigaretten und ein Snickers. Meine Faulheit vom Samstag rächt sich. Coop Pronto ist teuer. Ich kaufe doppelt so viel ein wie sonst, damit niemand sieht, dass ich alleine frühstücken muss. An der Bushaltestelle schiesst ein junger Mann mit leerer Hand in die Luft, dann setzt er sich hin und isst Apfelringe. Ich esse das Snickers gleich im Bus. Zu Hause trinke ich drei Instant Kaffee und lege mich wieder hin.
Ein Eventnotstand in meiner Seele, Schmetterlingslarven im Kopf, wohin mit ihnen in dieser verpesteten Welt. Mein Rohstofflager Leben ist leer. A vendre Marlboro Lights 10 piece 50 SFr. Un lit pour bébé 100 SFr. Was mache ich jetzt mit diesem Trümmerhaufen Ich? Rette ich es, vor was, wohin? Errichte ich mir ein Zentrum auf der Müllhalde? Ein gutes Fundament.
Anthony hat ein Stipendium in London gekriegt. Er fragt, ob ich ihn begleite.1

1Anthony und ich haben uns vor zwei Jahren in einer Bar kennen gelernt. Er sagte einfach: "I want to have an affair with you." Ich fand das überzeugend. Liebe ist ein Supermarkt, man bedient sich mit herzhaftem Appetit, bis die Regale leer sind. Anthony und ich halten unsere Gier im Zaum.


London
Bibermann und Biberfrau sind einander ein Leben lang treu. Nach drei Jahren ist ein Biber geschlechtsreif, er kann bis zu zwanzig Jahre alt werden. Bibermann und Biberfrau leben im besten Fall also siebzehn Jahre zusammen. In ihrer Biberburg ziehen sie zwei Generationen Biberkinder auf. Sie bringen ihrem Nachwuchs die Körperpflege (der Pelz wird regelmässig mit dem Bibergeil, einem fetthaltigen Sekret, das vor Nässe und Auskühlung schützt, eingerieben) Schwimmen, (die wasserscheuen Jungen werden von der Mutter einfach ins Wasser geworfen) Holzen und Bauen bei. Das Biberrevier umfasst bis zu drei Kilometer Flusswassertrecke. Die Biber sind wahre Landschaftsarchitekten. Ihre Bauten beinhalten Fluchtwege, Spiel- und Fressröhren, das Wohnzimmer liegt über Wasser, ist aber nur unter Wasser zu erreichen. Auch im Dammbau sind die Biber Pioniere. Der Wasserstand wird reguliert, um die Wohnung trocken zu halten, gleichzeitig wird der Teich mit Wasserpflanzen bewirtschaftet.
Die jungen Erwachsenen ziehen bis zu 100 km in die Ferne um ihren jüngeren Geschwistern Platz zu machen und eine eigene Familie zu gründen.
Darüber was das Biberpaar in Rente macht, gibt Wikipedia keine Auskunft.


La naissance necessary
Die Badewanne steht auf Rädern, der Saal erweckt den Eindruck eines Krankenhauszimmers. Überall stehen Infusionsständer herum, die Flaschen mit milchiger Flüssigkeit gefüllt, Blutkonserven sind zu einer kleinen Mauer aufgetürmt.
Das Mädchen im weissen Kittel benutzt eine Rasierklinge, zu hören ist einzig das Tropfen des Öls, wenn sich Mircea in der Wanne bewegt. Sein Blick ist unbewegt, starr ins Weite gerichtet. Mircea hat eines dieser schwer zu verunstaltenden Gesichter. Jetzt trägt er nur noch den roten Kamm auf dem Kopf.
Ich betrachte die Anwesenden, auch Anthony schaut gebannt der Performance zu. Freundinnen wechseln vielsagende Blicke. Ältere Damen, die nach Chanel Nr. 5 riechen, streicheln ihre Krokolederhandtasche und schauen sich nach Objekten um, die zum Verkauf stehen. Männer mit Schnurrbart und Stiefeln werden ihn wohl für den Laufsteg buchen. Kritiker mit Hornbrille ziehen die Brauen hoch, aber nur ein bissschen. Der Junge hat was. Allemal eine Ausstellung wert. Mircea wird sich ihre Adresskarten einstecken und ihnen das Gefühl geben, dass sie wichtig sind.
Ein zweites Mädchen rollt eine Wanne gefüllt mit Hühnerfedern rein. Mircea steigt aus dem Öl, schreitet quer durch den Raum zum Daunenbad, als ob er nie was anderes machen würde, nackt und selbstverständlich, der Abdruck seiner Füsse auf dem weissen Boden regelmässig, lässt sich dann leicht in die Wanne gleiten, hebt seine Arme hoch, betrachtet seine Hände, sind das jetzt Schwingen, stemmt sich hoch aus dem Trog, stellt sich auf eine Personenwaage: 77. kg. 25 Gramm schwerer jetzt. 25 Gramm Seele.

Frühling
Es war ein langer Winter. Wir assen viel Reis, wenig Gemüse. Wir wollten das Sparen üben. Die Verkäufe liefen schlecht und mein Vater blieb dabei, ich solle jetzt endlich was aus meinem Leben machen. Das Porzellan auf dem wir einander unsere Reisvarianten, Rissotto, Safranreis, Milchreis, Basmatireis servierten, war lieblich handbemalt mit Goldrand. Der schwarze Kaffee schmeckte in den hübschen Tässchen erst bitter, als auch unsere Füsse nicht mehr warm wurden und Anthony sich müde wegdrehte, wenn ich mich an ihm wärmen wollte. Aus den Tellern wurden Farbpaletten und im Schlaf sagte er: You steal my dreams. Ich sagte: Männer. Am Morgen stritten wir uns darüber, wer was gesagt hatte, wir logen beide.
Wenn Anthony sich mit jemandem verabredete, blieb ich meist im Atelier. Ich malte Wörter auf Packpapier, während mich seine nackten Frauen mit leeren Augen ansahen. Ich fragte mich, ob eine von ihnen ich war. Einmal entdeckte ich auf seiner Facebook Seite eine hübsche Frau und erschrak, als ich mich erkannte.
Ich tanzte, wenn er nicht da war, aber für den Tanz, den ich im Kopf hatte, fehlte mir der Partner. Ich behalf mich mit Möbelstücken, liess mich wie ein Brett von Stühlen fallen. Nach der letzten Probe konnte ich eine Woche lang meine Handgelenke kaum mehr bewegen, also habe ich's sein lassen mit dem Ausdruckstanz, wobei ich auf leichte Akrobatik nicht verzichte. Diese Zeilen schreibe ich im Kopfstand, der Fluss ist dabei ein anderer.
Mircea steht an der Tür, betrachtet mit gerunzelter Stirn die Frau, die auf dem Kopf steht, erfasst die Details, das Shirt ist ihr bis zum Hals runtergerutscht, da kommen ihm gute Assoziationen.

Bettina Gugger