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Maiers MEIERISLI

Weh tat es nicht. Die Ärzte sprachen einem Mut zu, sprachen von einem Wunder, medizinisch gesehen. Keine Sehbehinderungen. Keine Hirnverletzungen. Keine Schmerzen. Und das, obwohl man noch lebte.




Es war alles fast so wie zuvor, bis auf das gebrochene Schulterblatt. Die Ärzte hatten es zu spät entdeckt. Ein Pfusch, eigentlich ein Spitalskandal. Ärgerlich, aber halb so gegen die Bullen. Die wollten einem die Wahrheit ja nicht glauben. Dabei war die Sache krass genug. An einem Sylvesterabend mitten auf der Strasse. Ein 7.2 Zentimeter langes MEIERISLI?




Da lagen doch alle möglichen Sachen herum, vor allem am Sylvester. Im Ausgang war man gewesen, mit der Freundin Rada - sie ist Zeugin - , als es passierte. Wieso auch nicht? So einen Fund machte man nicht alle Tage. Und schliesslich konnte man nicht viel dafür, dass das Teil so schwer war und die Jeans so eng geschnitten. Frag Rada. Sie wird es bezeugen.




Aber die Bullen. Die wollten, dass man eine Story erfand, die besser in ihr Protokoll passte! Die Wahrheit erschien denen nicht wahrscheinlich genug. Und wahrscheinlich, behaupteten sie, sei folgender Sachverhalt gewesen: Der 16-jährige Maier So-und-so gerät am frühen Morgen des 13. auf den 14. in einen Streit. Um seiner Freundin zu imponieren und seinen Kontrahenten einzuschüchtern, zückt Maier ein 7.2 cm langes MEIERISLI. Damit fuchtelt der 16-jährige Maier vor dem Gesicht eines unbekannten Jungen und schlägt ihn in die Flucht. Soweit, so Protokoll. Alles Quatsch.




Denn das Unglück passierte ja erst später, das musste sogar das Protokoll zugeben. Die wollten einen ja wegen dem illegalen Besitz und so kriegen. Dabei war Sylvester, und man war doch nicht schuld daran, dass einer sein MEIERISLI mitten auf der Strasse verloren hatte, und dass man, gewissenhaft, wie man war, es aufgehoben hatte? Gut, das war vielleicht spiessig, aber sicher nicht verwerflich! Denn ein 7.2 Zentimeter langes MEIERISLI, klar, ein so langes MEIERISLI fing spätestens ab 3.5 Zentimeter an zu stören - und das war nicht erlaubt.




Rada kann es bezeugen, so war man nämlich, als Typ, immer korrekt. Beim Kommen zum Beispiel - nur als Beispiel - , schickte man ihr immer eine kurze Warnung voraus, damit sie selbstständig entscheiden konnte, ob jetzt spritzen lassen oder schlucken. Denn im Grunde war man eher zurückhaltend, vom Typ her, fast schon schüchtern. Man hätte nie einfach so auf einen eingeschlagen, das verbot einem sein Ehrenkodex und den hatte man hochzuhalten, Hockeymatsch hin oder gewonnnen.




Aber im Protokoll stand: Der Maier So-und-so rutscht auf dem Gehsteig aus und rammt sich sein MEIERISLI mitten ins Auge. Das MEIERISLI dringt mehrere Zentimeter tief in sein Gehirn ein. Kreuzung Langstrasse Militärstrasse. Schön nachdenklich machen einen solche Szenen. Da streicht man sich schon mal mit der Fingerspitze über die linke Augenbraue. Nein, so stand das nicht im Protokoll, kann man sich aber gut denken, im Nachhinein. Da kann sich nur wundern, wie man das überlebt hat. Tage danach im Lochergut. Streit mit einem anderen Teenager, steht im Protokoll. Alles Quatsch.




Auf dem vereisten Gehweg rutscht man aus, stürzt nach vorne und rammt sich das MEIERISLI in den Kopf. So war das. Blöder Zufall. Saublöd. Das sieben Zentimeter lange MEIERISLI direkt in den Knochen über der Augenhöhle. Bis zum Anschlag im Schädel. Im Kino hätte man vermutlich noch gesehen, wie einem das Hirn dem MEIERISLI entlang rausquillt. Tarantino. Aber schön langsam für die Zeitlupe. Kein schönes Bild. Aber im richtigen Leben gehen einem in einem solchen Moment halt andere Bilder durch den Kopf. Ehrlich gesagt, nicht einmal mehr Bilder. In einem solchen Moment steht man bloss noch auf, irrt mit dem MEIERISLI im Auge durch die Querstrassen der Langstrasse und wundert sich allenfalls, dass man keine Schmerzen spürt. Kein Gefühl, gar nichts. Das war der Schock. Da denkt man die ganze Zeit nur: Mann, wie komme ich ins Krankenhaus? Verdammt.




Frag die Freundin. Rada. Die war dabei: "Guck mich nicht an", so ich, sagte sie, gab sie zu Protokoll. Genau so. O -Ton jetzt, aber krass, ich so, nur noch Torkeln, geradeaus, mitten auf die Strasse. Dann der Autofahrer, dem das aufgefallen sein muss. Junge mit MEIERISLI im Auge, da darf man sich nicht wundern, wenn einer anhält. Steht fast so im Protokoll. Kann man fast alles so nachlesen. Bis jetzt fast alles korrekt.




Aber wenn man dann im Wagen sitzt, setzt doch noch der Schmerz ein und man denkt: "Det äne am Bergli, det staht e wiisi Geiss, ich ha si welle melche, da haut sie mer eis". Genauso: " … da haut sie mehr aus!" Singt man aber nicht, aber man denkt es, besser gesagt, so denkt es in einem. Es explodiert. Kann man vielleicht nicht richtig nachvollziehen, wenn man selber noch nie ein MEIERISLI hat stecken gehabt, ist aber.




Im Krankenhaus dann wieder ganz schnell Ende des Protokolls. Muss man selber wieder nachlesen, später, wie das genau gewesen sein muss: Dass einen die Ärzte in ein künstliches Koma versetzen, mir nichts dir nichts, verdammter Ärztepfusch, Spitalskandal. Es steht nicht gut um einen: Das MEIERISLI ist knapp sieben Zentimeter tief ins Gehirn eingedrungen. Man rechne. Die Wahrscheinlichkeit, dass man nach dem Unfall geistig behindert sein wird, liegt bei mehr als 80%. Keine guten Aussichten! Das steht jetzt hundertpro wieder so im Protokoll, ohne Übertreibung. Nichts beschönigt, nichts erfunden. Kann man gar nicht kontrollieren nach so einer Geschichte. Kann man selber nur noch glauben.




Und doch glaubt man es nicht wirklich. Eben, weil Koma. In einer Not-OP sägen einem die Ärzte den Schädel auf, selber bekommt man schon lange nichts mehr mit. Einem Neurochirurgen gelingt es schliesslich, das MEIERISLI aus dem Kopf zu ziehen - und schwupps, zwei Tage später wacht man auf. Keine bleibenden Schäden. Keine Sehbehinderungen, keine Hirnschäden, keine Schmerzen, nichts! Woran man sich erinnert: Die weissen Gewänder. Die Engelsgesichter. "Himmel!", Himmel, glaubt man, ohne Scheiss, da fängst du wieder an zu glauben. Aber das Koma: Krass. Schlimmste Alpträume. Vermutlich wurde man misshandelt und so. Daran erinnert man sich dann noch ein Leben lang. Vage, aber übel. Ganz bös.




Jetzt ist man wieder munter, aber die Bullen: Sauerei, was die damals mit einem machten, über einen verbreiteten. Wenn das wenigsten vorne oder hinten gestimmt hätte. Aber bedroht hatte man bestimmt niemanden, totaler Quatsch!
Wo Streit?
Mit wem denn?
Warum?




Das MEIERISLI hatte man nur zufällig in der Hand gehabt, Sylvester, alles bereits gesagt, kann man sich nur wiederholen: da liegen alle möglichen Sachen auf der Strasse. Und das Teil hatte halt geklappert. Hat halt gedrückt. Die Hoden gequetscht. Da hat man's in die Hand genommen. Aufgeklappt? Und wenn schon. Das MEIERISLI hat einem ja nicht mal gehört. Man hat's ja gefunden. Lag auf der Strasse. Sylvester, wie gesagt. Aber ein Pfusch war's trotzdem. Eigentlich ein Skandal! Dem müsste man nachgehen - nicht ihm! Die waren so auf das im Auge steckende MEIERISLI konzentriert, dass sie einen gar nicht erst auf weitere Verletzungen untersuchten. Aber jetzt hatte man das mit dem Schulterblatt, verwachsen, richtig schief.



Roti Rösli im Garte, Meierisli im Wald
Wänd dä wind chunt cho gä blase, dänn verwelket si bald

Andreas Heusser

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Illustration: Cornelia Heusser
geb.1979, lebt in Zürich, www.corneliaheusser.ch